Wie sich zeitgenössisches linkes Denken zusammensetzt

Robert Misik über linkes Denken und Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas und Foucault
Bildung, Kultur und Medien
Europa und Internationales
Innen- und Kommunalpolitik
Donnerstag,
5
.11.
2015
 
Wien
BSA Döbling
Bundesfachgruppe Medienberufe im BSA

Am 5.11.2015 begrüßte der BSA-Bezirksklub in Kooperation mit der Bundesfachgruppe Medienberufe im BSA wieder einmal den Journalisten und Autor Robert Misik, der sein neuestes Buch "Was Linke denken" im von Richard Sattler moderierten Gespräch vorstellte und beschrieb, wie sich das zeitgenössische linke Denken zusammensetzt. Das Buch behandelt Fragen, in denen sich die überwiegende Mehrheit in dieser vielfärbigen Linken einig ist sowie die philosophischen und theoretischen Grundlagen, auf denen linkes Denken basiert, und versucht in 8 Kapiteln, die sich allesamt jeweils mit einem Theoriebaustein oder Schlagwörtern wie "Entfremdung", "Revolution", "Reform", "Macht", "Individualismus" widmen, zu zeigen, welche Haltungen heute in den linken und gesellschaftskritischen Milieus weitgehend geteilt werden und aus welchen Quellen sich diese speisen.

Robert Misik bekannte sich dazu, dass der Buchtitel als etwas hochtrabend missverstanden werden könnte, einerseits kommt ihm selbst bei manchen seiner linken Weggefährten nicht selten in den Sinn, dass ein bisschen Denken nicht schaden könnte, andererseits gibt es "die Linken" als homogene Gruppe nicht und illustrierte dies am Beispiel zweier Linker, die sich bei einer Diskussion zu einem beliebigen Thema in die Haare kriegen. Daher klärte er zunächst, was er mit "Linken im weitesten Sinne" meinte.

Leute, die aus einer gewissen Grundüberzeugung heraus linke Parteien wählen, seien es die Sozialdemokraten, die Grünen, andere "linkere" Linksparteien, die sich für eine solidarische Gesellschaft einsetzen, seien das Elterninitiativen; die etwas für gleichberechtigte Bildung tun oder christliche Caritas-Funktionäre, die Flüchtlingen helfen; Antifa-Demonstranten genauso wie viele Vertrauensleute im Betrieb, die alle paar Jahre an einer Demonstration teilnehmen; die für die Freiheit der Kunst sind und gegen einen Konformitätszwang; die glauben, dass Aufklärung etwas bewirken kann, die Internationalismus jedenfalls anziehender finden als Nationalismus und Rassismus; dass Geld und Karriere nicht das Wichtigste im Leben sind und dass in einer guten Gesellschaft jeder das Recht und die Chance haben sollte, seine Talente zu entwickeln. Dazu gehören für mich "linkere" und politisch entschiedene Linke genauso wie Normalos aus der Mitte, die etwas links "ticken".

Der Autor befand diese Linke als extrem bunt und heterogen, zumal man zu jeder Frage genügend Leute finden wird, die in wichtigen Details unterschiedlicher Meinung sind, aber es auch genügend Überzeugungen gibt, die von einer überwältigenden Mehrheit dieser vielstimmigen Linken geteilt werden.

Ehrlich gesagt denke ich, dass die überwiegende Mehrheit bei sehr vielen Themen verblüffend ähnliche Meinungen äußern würde, wenn wir sie dazu brächten, einmal gemeinsam darüber zu reden.

Der allgemein recht verbreitete Befund, wonach Politik heute weitgehend entideologisiert ist, in den Parteien ohnehin, die sich in der Mitte drängeln, die keine Ideen mehr haben, keine großen Ziele mehr verfolgen und ihre Wahlpropaganda auf flotte, aber sinnfreie Slogans und Soundbites reduzieren, geht noch weiter. Während sich früher Linke für komplizierte theoretische Abhandlungen interessierten, sei die Zeit großer Theoriedebatten vorbei. Kaum jemand arbeite sich noch durch komplexe Texte, um sich daraus sein "Weltbild" oder "eine politische Linie" zu zimmern, für unseren Gast ein vorschneller Befund.

Links, so würden viele Leute sagen, das ist heute doch mehr so ein Gefühl: Für Gerechtigkeit, gegen Ungerechtigkeit jeder Art. Die einen sind gegen den Kapitalismus, weil es diesen ohne Ausbeutung nicht geben könne, die anderen hätten ihn gerne mit ein bisschen Umverteilung gerechter gemacht. Was man an Argumenten für das eine oder andere unbedingt braucht, das kann man sich problemlos auf Facebook zusammenliken. Rassismus bekämpfen? Sowieso! Imperialismus böse finden? Dafür braucht man doch keine große Lektüreanstrengung!

Ein damit verbundenes Urteil lautet, dass die "Gefühlslinke" im Grunde nur mehr wisse, wogegen sie sei, aber kaum mehr formulieren könne, wofür sie sei. Verantwortlich wird auch dafür laut Robert Misik die "Entideologisierung" gemacht, denn Linke früherer Tage hätten Gewissheiten gehabt, diese heute alle in Trümmern lägen, aber nicht nur Linke, die sich noch als politisch verstehen, seien denkfaul geworden.

Das systematische Lesen und damit auch das fundierte Denken - alles hoffnungslos out. Das ist natürlich nicht gänzlich falsch, aber womöglich ein wenig zu oberflächlich geurteilt. Erstens entsteht die Diskrepanz ein wenig durch nostalgische Verklärung der Vergangenheit und eine gewisse Ignoranz gegenüber der Gegenwart: Auch in den siebziger und achtziger Jahren hat nur eine Minderheit rebellischer junger Leute und avancierter Jungakademiker die Theorie-Konvolute in sich hineingestopft - und diese Minderheit gibt es heute immer noch, auch wenn sie vielleicht etwas kleiner sein mag. Zweitens ist die Annahme, Linke früherer Generationen seien mit Gewissheiten bis obenhin angefüllt gewesen, ein ziemlicher Unfug. Drittens waren die, die man Theoretiker und noch etwas früher die Ideologen nannte, immer eine Minderheit in den linken Parteien und Milieus, aber sie wirkten natürlich auf das Denken in diesen Bewegungen ein.

Die Welt änderte sich ständig und stets war unklar, ob die bisherigen Analysen nicht über den Haufen geworfen werden mussten. Dementsprechend hatte niemand alle Antworten auf alle gegenwärtigen und zukünftigen Fragen, somit den Schlüssel zur Geschichte in der Tasche, wenngleich es manche Linke gab, die dies wirklich glaubten. Linkes Denken war niemals fixiert, sondern stets auf schwankendem Boden. Robert Misik bestrittt, dass es ein einigermaßen konzises linkes Denken nicht mehr gibt, das Denken des gemeinen Durchschnittslinken nicht nur ein paar Gefühlen und Gutmenschen-Reflexen folgt und völlig losgelöst von theoretischen Überlegungen, wie sie in den vergangenen 150 Jahren angestellt wurden, ist.

Der Journalist ging beinahe soweit, dass das Gegenteil der Fall ist, was der oder die zeitgenössische Durchschnittslinke denkt, das Produkt dieser philosophischer und theoretischer Überlegungen ist und schließlich auch für die verschiedenen Stränge der linken Philosophie oder Philosophien gilt, was Antonio Gramsci, ein Theoretiker des 20. Jahrhunderts, einmal wie folgt beschrieben hatte, wonach jede philosophische Strömung eine Ablagerung von "Alltagsverstand", der nichts Erstarrtes oder Unbewegliches ist, sondern sich verändert, hinterlässt, diese das Zeugnis ihrer historischen Leistung ist.

Eine kluge Person entwickelt eine philosophische Analyse, eine kleine Gruppe philosophisch oder gesellschaftskritisch interessierter Leser eignet sich diese Analyse an, sie verbreitet sich im allgemein an intellektuellen Fragestellungen interessierten Milieu, findet Eingang in die Medien, in Leitartikel oder die Essayistik, wird erst gelegentlich, dann immer häufiger aufgegriffen. Auf diesem oder ähnlichen Wegen verbreiten sich Theorien und Philosophien und werden zu einer Art Sediment.

Das bedeutet, was von irgendjemandem einmal aufgeschrieben wurde, wird dann von Leuten geteilt, die das möglicherweise nie gelesen haben, vielleicht von dem Philosophen und Theoretiker, der die entsprechende These ursprünglich entwickelte, noch nicht einmal gehört haben. In weiterer Folge beschrieb der Buchautor, dass manche Urteile, Meinungen und Überzeugen so weit verbreitet und in bestimmten, gar nicht so kleinen Milieus als derart selbstverständlich anerkannt sind, das man diese zum Alltagsverstand jener Leute zählen kann, die sich im weitesten Sinne als "Linke" verstehen würden.

Einflussreiche Theorien sind deshalb einflussreich, weil viele Menschen ihre Postulate teilen oder zumindest einige von diesen - selbst dann, wenn ihnen das nicht einmal bewusst ist. Insofern ist die These zumindest fragwürdig, dass die Linke heute "antiintellektuell", "theorievergessen" oder "entideologisiert" ist.

Robert Misik versuchte sich darauf zu konzentrieren, was zumindest von einigermaßen relevanten Gruppen der Linken heute gedacht wird und zeigte auf, auf welche allesamt historischen Theorien sich dieses Denken stützt. Er konzentrierte sich in seinem Buch auf Themenkomplexe wie das Verhältnis von materieller Produktion und Gesellschaft, Geschichte und Bewusstsein, Fragen der Regierung, der Herrschaft und des hegemonialen Denkens, Fortschritt und Aufklärung, Fragen, die um Individualität, Entfremdung und Kreativität kreisen, Macht und Diskurse sowie zuletzt Fragen der Kultur und der Identität. Er erinnerte an Rossana Rossanda, nach ihrer Einschätzung "die alte Linke" mit Fragen und nicht mit Gewissheiten lebte, und meinte, dass sich in der Hinsicht viel weniger geändert hat, als man denkt.

Die heutige Linke hat nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Wissen und das, was man salopp die "linken Haltungen" nennt, basiert auf alten Theorien, die zu ihrer Zeit auf Fragen geantwortet haben, und auf neuen Theorien, die auf neue Fragen eine Antwort suchten. Das aktuelle linke Denken ist Produkt einer Geschichte des Denkens. Was auch heißt: Es kann niemals stillstehen. Und oft wird es von Außenseitern vorangebracht, die neue Fragen erst aufwerfen, aber damit auch dazu beitragen, dass sie weitere Kreise ziehen. Es kommt einem da spontan die berühmte Formel der mexikanischen Zapatistenbewegung in den Sinn, die eine Parole geprägt hat. Sie lautet: "Fragend schreiten wir voran!"

Nach der Buchpräsentation gab es noch eine angeregte Publikumsdiskussion mit dem Journalisten, der an diesem Abend nicht nur zu einer Reise durch das linke Denken einlud, sondern auch neben einer Kartografie des zeitgenössischen linken Denkens Werbung für das große Abenteuer Denken machte.

Geniale Theorien bringen uns auf Ideen, die wir sonst nicht gefasst hätten. Sie halten uns wach im Kopf, verhindern, dass wir versumpfen und verblöden. Besser eine versponnene Idee als gar keine. Ideen sind es, die Menschen dazu bewegen, die Welt zu verändern. Ideen verändern die Welt.

Veranstaltungsankündigung