Reden wir über Europa

Robert Menasse über die Wut der Bürger und den Frieden Europas sowie Heimat als die schönste Utopie
Bildung, Kultur und Medien
Europa und Internationales
Wirtschaft und Arbeit
Mittwoch,
6
.5.
2015
 
Wien
BSA Döbling
BSA Alsergrund
Bundesfachgruppe Medienberufe im BSA

Am 6.5.2015 konnte der BSA-Döbling in guter Zusammenarbeit mit dem BSA-Alsergrund und der Bundesfachgruppe Medienberufe im BSA den Romancier und Essayisten Robert Menasse zu einem europäisch und literarisch geprägten Gesprächsabend begrüßen. Einer der intelligentesten Fürsprecher des Projekts Europas stellte nicht nur seine beiden Werke "Der Europäische Landbote" und "Heimat ist die schönste Utopie" vor, sondern präsentierte den Mitgliedern seine umfassenden Gedanken zur EU und verdeutlichte weiters seine starken Überzeugungen von der Zukunft Europas.

Europa könnte die politische Avantgarde der Welt sein. Europa muss der Phantasie der Künstler folgen und nicht den Pragmatikern, die die Krise erst geschaffen haben.

In seinem einleitenden Referat berichtete der Buchautor zunächst von seinen Recherchen in Brüssel, die ein halbes Jahr dauerten, und seinen überraschenden Erlebnissen mit EU-BeamtInnen und der Bürokratie in Brüssel, die sich deutlich anders darstellte als die weit verbreitete Klischeevorstellung. Dem Romancier präsentierte sich die dortige Bürokratie nicht als ein geschlossenes Gebilde, das sich nach außen wie eine Wagenburg abschottet, sondern für ihn überraschend mit bescheidener, offener und transparenter Arbeit.

Ich war sehr verblüfft, dass es sich dann vor Ort doch deutlich anders für mich gezeigt hat. Es stimmt nicht, dass da weltfremde Menschen sitzen, die irgendwas aushecken ohne eine genaue Vorstellung mehr vom Leben da daraußen zu haben. Es gab überhaupt keine Schwierigkeiten da hinein zu kommen, mit Menschen zu reden, Informationen zu erhalten.

Zunächst ging Robert Menasse auf die Geschichte der EU, als eine vernünftige Konsequenz aus der Geschichte, pragmatische Folge der Einsicht, dass sich die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, allesamt Produkt des Nationalismus und der Interessenskonflikte der Nationalstaaten, nicht mehr wiederholen dürfen, und auf die Idee ein, die Ökonomien so miteinander zu verflechten, dass dies zu gemeinschaftlichem Handeln, Solidarität, nachhaltigem Frieden und gemeinsamen Wohlstand führt.

Der Vernunftgrund der EU ist die Überwindung des Nationalismus in einer nachnationalen Entwicklung, vorangetrieben durch supranationale Institutionen. Wenn supranationale Politik von Politikern gemacht wird, die in erster Linie sogenannte nationale Interessen verteidigen, dann führt das nur zu wachsenden Widersprüchen statt zu gemeinschaftlichen Lösungen.

Es gibt aus seiner Sicht einen Widerspruch zwischen der Überwindung der Nationalstaaten, also der Vermeinschaftung Europas auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Versuch immer wieder nationale Interessen zu verteidigen, nationale Sonderwege zu gehen. Die Verteidigung nationaler Interessen liegt für ihn im Rat der Staats- und Regierungschefs, die eine nachnationale Entwicklung und jeden Versuch gemeinschaftliche Lösungen für national nicht lösbare Probleme zu finden, blockieren.

Was wir heute Krise nennen, ist eine Transformationskrise. Es ist eine politische Krise. Die verantwortlichen politischen Eliten sind national gewählt und können nur in nationalen Wahlen ihre Wiederwahl organisieren.

Der Essayist prognostizierte ein Scheitern, wenn die großen sozialdemokratischen oder bürgerlichen Parteien versprechen, nationale Interessen zu verteidigen. Bei enttäuschten Erwartungen erfolgt der logische Wechsel der WählerInnen mit noch größeren Erwartungen zu radikaleren Nationalisten.

Wer aus wahltaktischen Gründen mit dem Nationalismus spielt, wird von den Nationalisten hinweggefegt werden, und man muss geschichtsblind sein, um nicht zu wissen, was dann geschehen wird. Deshalb ist es vernünftiger, als Politiker jetzt gleich offen und frei zu sagen: Es geht in einer längst transnationalen Welt nicht mehr mit nationaler Politik. Es geht nur mit Gemeinschaftspolitik. Und wenn ihr das nicht akzeptiert, dann wählt mich nicht. Aber ich habe es euch gesagt, und ich komme wieder, wenn ihr vor rauchenden Trümmern steht und betroffen "Nie wieder!" sagt.

Da der Gesprächsabend am Tag vor der Unterhauswahl 2015 in Großbritannien stattfand, der eine europapolitische Bedeutung zugemessen wird, beantwortete der Schriftsteller die aktuelle Frage nach einem möglichen britischen Austritt aus der EU dahingehend, dass der Austritt ein Glücksfall wäre.

Die britische Politik ist ein Hindernis der wünschenswerten europäischen Entwicklung. Großbritannien ist Mitglied der EU und ist Teil Europas, aber in der EU ist die englische Politik ein unausgesetzter Krisenproduzent. Die machen beim Euro nicht mit, sie machen nicht mit bei Schengen, dem innen-grenzenlosen Europa und sie machen bei der Bankenaufsicht nicht mit. Gleichzeitig sind die Briten aber als Mitglied natürlich auch vertreten und haben kein Interesse, dass das Vereinigte Europa voranschreitet.

Weitere Themen waren die Notwendigkeit einer europäischen Medienpolitik sowie Kommunikation und Information über transnationale Politik und Prozesse, die über nationale Medien erfolgt und zu einer beschränkten Sichtweise im öffentlichen Diskurs führt. Darin liegt das Kommunikationsproblem, wobei Robert Menasse etwa die Wortwahl deutscher Medien über die Griechenland-Krise sehr kritisch sieht.

Die Frage ist, wie lange sich deutsche Medien, die gegen die Griechen hetzen, noch als aufgeklärte Medien bezeichnen können. Die Wortwahl ist Ausdruck der nationalistischen Geisteshaltung, gegen die die EU gegründet wurde. Wenn man EU-Entscheidungen stets darauf runterbricht, wie es Nationalisten damit geht, dann wird es grotesk. Aber es gibt supranationale Institutionen, und sie sind dafür da, Entscheidungen zu treffen, die Rechtszustand und Lebenschancen für Menschen gewährleisten.

Robert Menasse machte deutlich, dass sein Verständnis dort endet, wo verschiedene Vorschläge auf dem Tisch liegen, es Alternativen gibt, aber die Politik immer wieder auf Basis nationaler Interessen Alternativen vom Tisch wischt und mahnte ein, dass die politischen Eliten die Größe haben müssten, Fehler einzugestehen, um die Menschen nach dem Vertrauensverlust wieder zuversichtlich zu stimmen.

Jene Politiker, die für die Einführung des Euro verantwortlich waren, haben es verhindert, dass politische Instrumente geschaffen wurden, um die Gemeinschaftswährung finanzpolitisch managen zu können. Man hat es versäumt, dass dies mit einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalpolitik verbunden wird. Wenn die Politik in der öffentlichen Debatte deutlich machen würde, es gibt Fehler, wir holen das jetzt nach, damit ihr die Vorzüge der Vergemeinschaftung genießen könnt wie die Reisefreiheit, die Niederlassungsfreiheit, die gemeinsame Währung. Dann würden die Menschen wieder Vertrauen fassen.

Die wichtigste Zukunftsfrage wird laut Robert Menasse die Demokratie in Europa sein, wenngleich die Verlagerung von nationalen Rechten auf die europäische Ebene nicht mehrheitsfähig sein werde. Für den Buchautor ist die demokratiepolitische Frage heute nicht, ob man zur plebiszitären Demokratie zurückkehren soll, sondern Mittel zu suchen, wie man die großen Herausforderungen, die durch nationale Demokratie, legitimiert lösen kann, wobei dies nur mehr durch transnationale Demokratie möglich ist.

Als die Montan-Union gegründet wurde, man kann das in den Memoiren von Jean Monnet nachlesen, gab es in der französischen Öffentlichkeit eine überwältigende Ablehnung gegen diesen Vertrag. Die Franzosen hatten sich von den Deutschen befreit und haben als Sieger-Nation nicht eingesehen, warum sie jetzt nationale Souveränitätsrechte an die Deutschen abgeben sollen: Aber es gab einen weitsichtigen, großen Politiker: Robert Schumann: Er hat im Parlament eine Mehrheit organisiert. Dazu gibt es das Parlament. Das ist Demokratie. Und nicht das Politikmachen nach demoskopischen Richtlinien. Der größte Demokratiekiller ist die auf Meinungsumfragen schielende Politik.

Der Schriftsteller widmete sich in weiterer Folge den europäischen Identitäten, einer Heimat in den Regionen und nicht in den Nationen, sowie der Dialektik zwischen einer postnationalen Entwicklung und einem Revival des Nationalismus als Blockade im individuellen und allgemeinen Bewusstsein.

In der Sozialisation jedes Menschen gibt es eine ganz starke Herzwurzel, und das ist die regionale Identität. Als Europäer habe ich auf diesem Kontinent die Möglichkeit überall zu leben und zu arbeiten. In meiner Region kann ich an der Entfaltung meiner regionalen Kultur mitarbeiten. Die dazwischen geschaltete nationale Identität braucht man weder für das Leben in Europa noch in der Region.

Der Romancier illustrierte seine Vorstellung von einem nachnationalen Europa der Regionen mit einer Abschaffung des Europäischen Rats, der Ausstattung des Europäischen Parlaments mit allen Rechten eines entfalteten Parlamentarismus und einer Wahl der Abgeordneten nicht mehr in der Nation, sondern in der Region. Die Rahmenbedingungen könnten definiert werden, die Finanz-, Wirtschafts- und Steuerpolitik, während bei den regionalen Parlamenten verbleibt, was regional entschieden werden kann.

Wenn es eine historische Erfahrung unserer Generation gibt, dann diese: Die sogenannte pragmatische Vernunft der sogenannten Realisten hat sich dramatisch lächerlich gemacht. Es ist auf Grund unserer Erfahrungen die Pflicht unserer Generation, den politischen Eliten immer wieder zuzurufen: Denk' an die Römischen Verträge und erinnere dich an den Fall der Berliner Mauer! Es ist viel mehr möglich, als Du für machbar hältst.

Nach diversen Kommentaren aus dem europapolitisch bewegten Publikum stand Robert Menasse nach dem offiziellen Teil dieses Abends bei Getränken noch für weitere informelle Gespräche zur Verfügung.

Veranstaltungsankündigung