Wir bleiben noch: Chancen für eine neue sozialdemokratische Erzählung - Im Gespräch mit Daniel Wisser, Markus Wagner, Regina Kreide und Felix Butzlaff

Warum ist weniger progressive Politik keine Lösung und weshalb gerade jetzt sozial und demokratisch?
Bildung, Kultur und Medien • Europa und Internationales • Innen- und Kommunalpolitik
Wien
BSA Döbling
BSA Penzing
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Gesellschaft für Geistes- und Sozialwissenschaften
Vereinigung sozialdemokratischer Angehöriger in Gesundheits- und Sozialberufen
Dienstag,
22
.6.
2021
18.00 Uhr

Zoom App

-, Download unter https://zoom.us/

Dr. Felix Butzlaff, M.A. (Politologe, Co-Autor "Genossen in der Krise: Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand" und Assistenzprofessor am Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit an der Wirtschaftsuniversität Wien)

Univ.-Prof.in Dr.in Regina Kreide (Politologin, Co-Autorin "Verbündet euch! Für eine bunte, solidarische und freie Gesellschaft" und Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen)

Univ.-Prof. Markus Wagner, PhD (Politologe, Co-Autor "Der Weg zu einer Transformation der Linken", Professor für Quantitative Parteien- und Wahlforschung am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien)

Daniel Wisser (Schriftsteller und Musiker, Buchautor "Wir bleiben noch" über die Welt von Victor Jarno, dem letzten Sozialdemokraten in einer Wiener Familie mit sozialistischen Wurzeln bis in die Kaiserzeit, als Hauptfigur einer Erzählung, die von historischer und aktueller Gesellschaftspolitik und vom Niedergang der Sozialdemokratie und vom Aufstieg der Rechtspopulisten in Österreich berichtet)

 

Die Volksparteien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht ausschließlich die Sozialdemokratie haben in den meisten Ländern in den letzten Jahren Wähleranteile von 10 bis 15 Prozentpunkten eingebüßt. Laut einer Einschätzung liegen dafür die Gründe vor allem im ökonomischen Strukturwandel und der Bildungsexpansion. Während die Arbeiterklasse schrumpft, wächst die Mittelklasse. Neue Themen kamen auf die politische Agenda, welche diese Parteien nur ungenügend selbst besetzen konnten. Während in den 1990er-Jahren noch in vielen Staaten sozialdemokratische Parteien die Politik in Europa dominierten, haben diese in den letzten Jahren etwa in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich oder Schweden historisch schlechte Wahlergebnisse und massive Einbußen bei ihren Stimmanteilen verzeichnet. In einem europäischen Staat, in dem die gesellschaftspolitischen Themen weniger politisiert sind, greifen ökonomische Themen, was nicht dasselbe in Staaten mit starken grünen und rechtsnationalen Parteien, in denen die Wahlentscheidung viel stärker von gesellschaftspolitischen Themen geprägt ist, aber einige Bedingungen sind sehr ähnlich zwischen den einzelnen Staaten. Strukturelle Faktoren beeinflussen seit mehr als zwei Jahrzehnten die Wählerpotenziale, eine einfache Möglichkeit zur Trendwende  scheint schwierig. In der öffentlichen Debatte zur Situation sozialdemokratischer Parteien scheint ein Narrativ besonders breiten Anklang zu finden, wonach sich sozialdemokratische Parteien in der Krise befänden, da diese die Arbeiterschicht, ihre frühere Kernklientel, vor allem an rechtspopulistische Parteien verloren habe. Ein Hauptgrund für diesen Verlust liege darin, dass sozialdemokratische Parteien zu progressive Positionen bei Fragen der Gesellschaftspolitik und vor allem bei der Migration hätten. ArbeiterInnen und generell weniger Gebildete würden von diesem Fokus auf Umweltschutz, Gleichberechtigung, Offenheit und internationale Kooperation nicht repräsentiert fühlen und deshalb die sozialdemokratischen Parteien hin zu Parteien, die stärker national und autoritär ausgerichtet sind, verlassen. Eine Analyse der Wanderung von WählerInnen im 21. Jahrhundert für neun mittel- und nordeuropäische Staaten ergibt, dass während der 2000er-Jahre der größte Teil der ehemalige sozialdemokratische WählerInnen zu Mitte-Rechts-Parteien gewechselt ist und während der 2010er-Jahre der größte Teil sozialdemokratische Parteien hin zu Grünen und sozialliberalen Parteien verlassen hat. Zu den RechtspopulistInnen wechselten während des gesamten Zeitraums 12 Prozent ehemaliger sozialdemokratischer WählerInnen.

 

Ist es angemessen, von einer Krise sozialdemokratischer Parteien zu sprechen? Ist es den meisten nicht gelungen, sich in diesem neuen Umfeld neu zu erfinden oder haben diese es zu spät versucht? Führt die ökonomische Verunsicherung zu politischen Veränderungen? Führt diese Verunsicherung zu kulturell konnotierten Mobilisierungen? An welche MitbewerberInnen hat die Sozialdemokratie in den letzten 20 Jahren WählerInnen verloren? Warum verursacht der Strukturwandel den größten Anteil am linken Wählerschwund in der Arbeiterklasse? Sind die meisten sozialdemokratischen WählerInnen zu den rechtspopulistischen Parteien gewechselt? Liegt die Hauptkonkurrenz in keinem europäischen Staat Rechtsaußen? Ist die Abwanderung der ArbeiterInnen zu rechtspopulistischen Parteien nicht verantwortlich für die Krise sozialdemokratischer Parteien? Lassen sich WählerInnen durch weniger progressive Positionen nicht zurückgewinnen? Wie wirkt sich die unterschiedliche Positionierung auf die Unterstützung von sozialdemokratischen Parteien aus? Können sozialdemokratische Parteien nur dann wieder erfolgreich sein, wenn diese weniger auf progressive Positionen in der Gesellschaftspolitik setzen und sich vor allem restriktiver bei Fragen der Migration positionieren? Schneiden vielmehr sozialdemokratische Parteien, die progressivere Positionen in der Gesellschaftspolitik einnehmen, bei Wahlen nicht schlechter ab? Haben sozialdemokratische Parteien mit progressiven Positionen bei Fragen der Gleichberechtigung, des Umweltschutzes und der Immigration mehr Erfolg als mit weniger progressiven Positionen? Führen weniger progressive Positionen nicht dazu, dass weniger gebildete WählerInnen und ArbeiterInnen eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen für sozialdemokratische Parteien zu stimmen? Kehren vor allem die jüngeren WählerInnen mit höherer Bildung bei weniger klaren progressiven Positionen der Sozialdemokratie den Rücken? Können sich überall in Europa nur sehr wenige rechtsnationale WählerInnen vorstellen, jemals sozialdemokratisch zu wählen? Dürften potenzielle Gewinne von ganz rechts generell schwierig zu realisieren sein? Sind hingegen enorm viele potenzielle WählerInnen bei den anderen links-progressiven Parteien zu finden? Liegt das größte Wählerpotenzial bei WählerInnen, die nicht nur ökonomisch, sondern vor allem auch gesellschaftspolitisch dezidiert progressive Positionen vertreten? Heißt „links sein“ für jüngere Menschen etwas anderes als für ältere? Ist eine Option für die Sozialdemokratie, gesellschaftspolitisch progressive Themen mit Verteilungspolitik zu verbinden und dies ins Zentrum zu stellen? Soll ein stärker Fokus auf Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit, Gleichstellung und soziale Mobilität zu legen? Wieso liegen diese Themen insbesondere den jüngeren, linken WählerInnen sehr am Herzen? Ist es angesichts einer generellen Fragmentierung europäischer Parteiensysteme unwahrscheinlich, dass es einfache Strategien gibt, sozialdemokratische Parteien zur alten Stärke zurückzuführen und alte Erfolge wiederherzustellen? Helfen mono-kausale Erklärungen für den Rückgang der Unterstützung nicht? Wie unwahrscheinlich ist es, dass eine stärker autoritär-nationalistische Politikausrichtung ein Erfolgsrezept für sozialdemokratische Parteien sein kann? Wann erfahren die sozialdemokratischen Parteien mehr Unterstützung? Soll man soziale Investitionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik favorisieren? Mit welcher Politik soll die Sozialdemokratie die Arbeit und Arbeitssuchende unterstützen? Wie kann man Humankapital und Fähigkeiten fördern, mit Bildung, Infrastruktur, Kinderbetreuung? Gewinnen sozialdemokratische Parteien, die diese Politik fördern, bei Wahlen tendenziell mehr Stimmen? Ist dies vor allem der Fall, wenn diese ökonomische Politikausrichtung mit progressiveren Positionen bei gesellschaftspolitischen Fragen verbunden wird? Wie kann die Trendwende in der sozialdemokratischen Politik noch gelingen?

Aus organisatorischen Gründen wird höflich um Anmeldung(en) per Mail unter doebling@bsa.at gebeten.