Österreich wählt am 15. Oktober einen neuen Nationalrat, Christian Kern soll Bundeskanzler bleiben, Sebastian Kurz will es werden und Heinz-Christian Strache der lachende Dritte sein. In diversen Kommentaren gilt 17 Jahre nach der schwarzblauen Wende die FPÖ als Fixstarterin für die nächste Bundesregierung, entweder mit der SPÖ oder der ÖVP, die Schande Europas scheint Normalität geworden zu sein. Europas Politik ist in Bewegung, Jeremy Corbyns Labour Party hat die konservative Mehrheit im britischen Unterhaus überraschend gebrochen, etwas weniger überraschend hat Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahlen gewonnen und seine Bewegung, La Republique en marche, eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erzielt, damit das traditionelle französische Parteiensystem auf den Kopf gestellt. Was beide Phänomene verbindet, ist, dass jene Kräfte erfolgreich waren, die sich als Gegenstück zum bestehenden Establishment positioniert haben. Was sie unterscheidet, ist nicht nur das inhaltliche Programm, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung dieser Kampagnen. In Österreich zeigte die Bundespräsidentschaftswahl noch vor wenigen Monaten eindrucksvoll, dass es eine Mehrheit gibt, die für Europa, für eine gerechte und sozial ausgewogene Politik und für eine konsequente Antwort auf den Klimawandel steht. Es gibt starke Stimmen aus der Zivilgesellschaft und in fast allen Parteien sowie Initiativen und Plattformen, die sich der Zukunft unseres Landes verpflichtet fühlen und nicht wollen, dass Österreich einen falschen Weg einschlägt. Der Wahlausgang beeinflusst nicht nur die Politik eines Landes, sondern die Polarisierung kann dazu beitragen, dass die Partizipation an politischen Prozessen zunimmt, ein Zeichen einer lebendigen Demokratie. Man muss mit klaren Positionen Vertrauen schaffen oder zurückgewinnen, auch mit einem klaren proeuropäischen Kurs oder einem Bekenntnis zur offenen Gesellschaft, und zeigen, dass nicht Reaktion oder Angststarre die richtige Antworten sind, sondern Aktion und dass der Stillstand aufgebrochen werden muss.
Gemeinsam mit unseren Gästen möchten wir vielfältige Fragestellungen gemeinsam vertiefen: Stehen die Zeichen in unserem Land auf Wandel? Wie kann dieser politische Wandel auch in Österreich zu einer modernen, weltoffenen, progressiven Gesellschaft führen? Welche Chance ergeben sich aus nicht mehr funktionierenden alten Mechanismen der Macht und sich in der Krise befindlichen alten politischen Realitäten? Wie groß ist dabei das Risiko, dass ab dem Herbst eine rechtspopulistische Bundesregierung Österreich um Jahrzehnte zurückwerfen würde und spannende Zukunftsfragen unbeantwortet ließe? Gibt es eine Mehrheit für eine gerechte und sozial ausgewogene Politik, für eine konsequente Antwort auf den Klimawandel, somit für die Koalition der Vernunft, der Weltoffenheit, der Zivilgesellschaft? Wie könnte Österreich wieder eine Vorreiterrolle in den zentralen Themen der Zeit einnehmen? Welcher Reform bedarf es etwa in den Bereichen Bildung und Schule, Wissenschaft, Digitalisierung, Gesundheit, Frauenpolitik, Wirtschaftsstandort, Bürokratieabbau, Klimaschutz, Energiewende oder Flüchtlingspolitik im Sinne von Integration, Menschenrechten und nachhaltigen Lösungsansätzen, um Österreich zu durchlüften und aus der Erstarrung zu holen? Warum verliert sich PolitikerInnen stattdessen viel zu oft in politischen Scheindebatten und Diskussionen über Feindbilder? Wie können Positives, Progressives und Weltoffenes, ehrliches Engagement, Zukunftsorientierung und -gestaltung, Versachlichung, Haltung und Anstand einer populistischen, zynischen Politik der Negativität, Ausgrenzung und Abschottung mit Zielen wie Schlagzeilen, Zuspitzung oder Hetze entgegengesetzt werden? Gibt es nach der Nationalratswahl 2017 eine Regierungsmehrheit, die ohne billigen Populismus an jenen wichtigen Zukunftsthemen arbeitet?