Der am 16. April bei einem Referendum zur Abstimmung stehende Entwurf für eine Verfassungsreform in der Türkei sieht unter anderem vor, dass der türkische Präsident künftig nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein soll und einer Partei angehören darf, was bislang nicht erlaubt war, seine StellvertreterInnen wählt und MinisterInnen ohne Parlamentsanhörung ernennt, welche nicht per Misstrauensvotum vom Parlament abgesetzt werden können, die Ministerien nach seinen Wünschen formt sowie persönlich über die Wahl der RektorInnen an den Universitäten entscheidet, das Parlament auflösen und Gesetzesvorhaben mit seinem Veto blockieren kann. Zwar könnte der Präsident selbst abgesetzt werden, aber das hat wiederum eine Auflösung des Parlaments zur Folge. Ein Präsidialsystem mit diesen neuen Bestimmungen sollen die Türkei, die sich seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 im Ausnahmezustand befindet und von Terroranschlägen erschüttert wird, nach Angaben von Recep Tayyip Erdogan und der AKP stabilisieren. Eine Rhetorik, wonach die Nein-WählerInnen auf der Seite der VerschwörerInnen des 15. Juli stehen, verhalf der AKP schon einmal zum Wahlsieg, vor den Parlamentswahlen 2015 wurden PolitikerInnen der prokurdischen Partei HDP, deren unerwartete Popularität der regierenden AKP zuvor ihre Mehrheit kostete, als SympathisantInnen des Terrors beschrieben. Nach Einschätzungen von BeobachterInnen dürfte es eine Mehrheit für das Referendum geben, bis dahin wird noch der Ausnahmezustand im Land bestehen bleiben, weshalb auch der Prozess dieses Referendums in der Kritik steht. Kritische JournalistInnen werden als Terrorverdächtige verfolgt, Medien geschlossen, StaatsanwältInnen abgesetzt, mutmaßliche AngängerInnen des Predigers Fetullah Gülen ihrer Posten enthoben. Offene Diskussionen über das Vorgehen der Regierung scheinen kaum möglich, die Opposition kritisiert, dass auch über den konkreten Inhalt jener geplanten Verfassungsänderung zu wenig informiert wird. Repressionen treffen inzwischen nicht mehr nur türkische Oppositionelle, sondern auch KritikerInnen aus dem Ausland wie etwa Deniz Yücel, den in Istanbul in Polizeigewahrsam befindlichen Korrespondenten der Tageszeitung Welt. Wird die Verfassungsänderung mit einfacher Mehrheit vom Volk akzeptiert, dürfte das seit 1920 bestehende parlamentarische System bis zum Ende der Amtszeit des Staatspräsidenten 2019 beibehalten werden, nach jener Reform könnte sich der amtierende türkische Präsident erneut für zwei Amtsperiode für je fünf Jahre aufstellen lassen und damit bis 2019 die Geschicke des Landes bestimmen. Viele Menschen scheinen jedoch unzufrieden mit den Verhältnissen in der Türkei zu sein, die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie seit sieben Jahren und die Lira im Vergleich zum US-Dollar so schwach wie seit 1981 nicht mehr. Laut BeobachterInnen würde nicht nur über das Präsidialsystem, sondern auch über Recep Tayyip Erdogans Präsidentschaft abgestimmt. Zwar sei das an sich nicht falsch, aber das Referendum nur auf eine Person zu reduzieren, vereinfacht ein komplexes Thema.
Gemeinsam mit unseren Gästen möchten wir mehreren Fragestellungen angesichts der bevorstehenden historischen Wende mit einem Wechsel vom Parlamentarismus zum Präsidialsystem nachgehen: Würde es sich bei einer Zustimmung zur Verfassungsänderung um den radikalsten Wandel seit der Gründung der türkischen Republik handeln? Gibt es ein demokratisches Land, das vom Parlamentarismus zum Präsidialsystem gewechselt ist, in der die Kontrolle über die Macht des Präsidenten existiert? Kann eine Abstimmung in diesem Klima als demokratisch legitimiert bewertet werden? Warum kann eine solche Verfassungsänderung die Probleme der Türkei nicht lösen? Wird sich die Struktur des Staates nicht mehr am Westen, sondern an Staatskonzepten im Nahen Osten orientieren? Warum ist diese Verfassungsänderung, der Umbau zum Präsidialsystem, das größte und wichtigste Projekt für Präsident Erdogan? Wird er seine Macht dadurch vergrößern und absichern oder könnte er sogar an seinem eigenen Volk scheitern? Wer gehört zu den GegnerInnen des Präsidialsystems? Hat das Nein-Lager wie das Ja-Lager eine Symbolfigur oder eine führende Stimme? Aus welchen Gruppen setzt sich das Nein-Lager zusammen und ist es organisiert? Wie werden die GegnerInnen vom Staat an einem effektiveren Wahlkampf gehindert? Wo findet deren Kampagne statt, in den sozialen Medien? Sind größere Kundgebungen und Wahlwerbung an öffentlichen Plätzen möglich? Welche Rolle spielen die sozialdemokratische CHP als größte Oppositionspartei, die prokurdische HDP, die nationalistische MHP und die Zivilgesellschaft? Wie stark ist das Nein-Lager trotz dieser Probleme und Hindernisse? Ist der Widerwille gegen das Präsidialsystem nicht nur bei den politischen GegnerInnen, sondern auch bei den AKP-AnhängerInnen vorhanden? Wie stark ähnelt der türkische Entwurf tatsächlich den Modellen in anderen Ländern? Was sind die entscheidenden Unterschiede im Vergleich mit den Systemen in Frankreich und den USA? Fehlt im türkischen Entwurf dieses Prinzip starker „Checks and Balances“? Wie sollen Auftritte jener PolitikerInnen, die gegen Demokratie und Menschenrechte vorgehen und hetzen, in Europa verhindert werden? Ist das gegenseitige Überbieten in Verbotsforderungen eine geeignete Reaktion auf die türkischen Wahlkampf-Pläne in Europa? Haben die Niederlande mit der entzogenen Landeerlaubnis für den türkischen Außenminister oder der Ausweisung der türkischen Familienministerin eine Option gewählt, wie es im Notfall unter dem Hinweis auf die mögliche Gefährdung der öffentlichen oder deren eigener Sicherheit möglich ist? Warum hat noch kein europäisches Land der Türkei das Angebot unterbreitet, Wahlveranstaltungen mit MinisterInnen zu genehmigen, sofern etwa inhaftierten OppositionspolitikerInnen der HDP in gleichem Maße politische Werbung ermöglicht und inhaftierten JournalistInnen die Möglichkeit einer freien Berichterstattung eingeräumt wird? Wie sehen die aktuellen Prognosen und Umfragen aus? Wird das Referendum sehr knapp ausfallen und deshalb jede Stimme, auch aus Europa, gebraucht?