Es ist eine starke Polarisierung der Gesellschaft zu konstatieren, durch Österreich zieht sich in gewisser Weise eine Spaltung entlang der Kriterien Ausbildung, Einkommen, Geschlecht, Alter und Zukunftseinstellung. Manche Menschen haben trotz eines ausgebauten Sozialstaates und einer jahrzehntelangen Periode von Frieden und Wohlstand Angst vor der Zukunft, dem Abstieg und Menschen auf der Flucht, Angst um den Arbeitsplatz und das Erreichte, wobei diese Ängste eine nicht wegzuleugnende Basis haben. Deutlich sind die Phänomene in Städten zu beobachten, da die Regionen am stärksten verdichtet ist. Das Wirtschafts- und Finanzsystem wird als ungerecht bezeichnet, die alten Zeiten des Wachstums kommen in dieser Form nach der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht so schnell wieder. Ein anderer Bereich, in dem sich die Ungerechtigkeit zeigt, ist der Klimawandel. Die wachsende Ungleichheit ist nicht für alle Probleme der Welt verantwortlich, dennoch mehren sich die Stimmen, die darin eines der zentralen Probleme der Gesellschaft sehen.
Neben den großen Themen der Zeit wie die Entwicklung im Nahen Osten, Klimawandel, die digitale Revolution oder die sich verändernde Arbeitswelt werden die Lebenssituationen insbesondere für jene, die auf staatliche Systeme stärker angewiesen sind, kritischer. Oft sind es jene EmpfängerInnen staatlicher Transferleistungen, welche diese zur Aufrechterhaltung eines gewissen Haushaltseinkommens benötigen, die leichtgläubig der Ansicht sind, dass dieses Transfereinkommen wegen Menschen auf der Flucht gekürzt wird. Arbeitslosigkeit, geringes Wirtschaftswachstum, Reformvorhaben und Menschen auf der Flucht haben Österreich in den letzten Monaten re-politisiert. Die Bundespolitik schlug auf Wahlen in den Ländern durch, fast 4 Millionen Wahlberechtigte bei Landtagswahlen in Wien, Oberösterreich, der Steiermark und im Burgenland stimmten nicht nur über ihre Landeshauptleute, sondern auch über die rot-schwarze Bundesregierung und deren Leistungen ab. Viele politische BeobachterInnen meinen, in Österreich herrscht Stillstand. Die Steuerreform und die Bildungsreform standen auf der Agenda, die positive Aspekte beinhalten. Allerdings verlieren sich die Parteien in unendlichen Streitereien, manche Länder agieren in Opposition zum Bund und die Populisten verharren in der Lauerstellung.
Bereits seit der Nationalratswahl 2008 besteht für SPÖ und ÖVP ein eindeutiger Trend, nur bei 3 von 18 Wahlgängen konnte eine der Parteien der rot-schwarzen Bundesregierung zulegen. Auch die Wählerstrukturen haben sich deutlich geändert, während in den 1970er-Jahren noch 65 Prozent ihrer bevorzugten Gesinnungsgemeinschaft die Treue hielten, ergab eine Analyse nach den Wahlen zum Europäischen Parlament, dass sich heute nur noch 44 Prozent der WählerInnen mit einer Partei identifizieren. Die Zugewinne der FPÖ bei den letzten Wahlen und in den aktuellen Umfragen sind unverändert besorgniserregend, aber nicht monokausal mit Ängsten vor Flüchtlingsströmen oder fremden Kulturen zu erklären. Während die FPÖ von SPÖ und ÖVP in den Ländern endgültig aus der politischen Quarantäne und in Oberösterreich und im Burgenland in die Landesregierung geholt wurde, setzte in Wien Michael Häupl auf Haltung und „Willkommenskultur“, zog das „andere Wien“ auf seine Seite und bewahrte seine Partei vor einem Waterloo.
Politik soll das aktuelle Zusammenleben im Staat regeln und gleichzeitig auf künftige Entwicklungen Rücksicht nehmen, wie wieder Vertrauen vermittelt werden kann, möchten wir mit namhaften MeinungsträgerInnen anhand aktueller Fragestellungen diskutieren: Wie kann es gelingen, den Graben zwischen den gesellschaftlichen Milieus zu überbrücken? Wie können die politischen Dauerbrenner gelöst werden? Welche Lehren sind zu ziehen? Ist beispielsweise der Widerstand, föderale Kompetenzen sachlicher zu verteilen, unüberwindlich? Geht das Bildungssystem in eine neue Zeit? Wie sollen nachhaltige Lösungen anstelle kosmetischer Korrekturen aussehen? Erwächst aus dem Stillstand ein Wettbewerbsnachteil? Ist die zunehmende Ungleichheit wachstumsfeindlich? Stoppt eine konsequente und glaubwürdige Politik den bei den letzten Wahlen und in Umfragen zu beobachtenden Aufstieg der FPÖ? Wie können deren perfekt geschürte Ängste durch die Regierenden und Kräfte aus der Zivilgesellschaft zumindest gemildert werden? Ist eine Trendwende mit Sachpolitik und Reformprojekten zu schaffen? Welche Reformen verdienen diese Bezeichnung zu Recht? Braucht es frisches Personal, neue Köpfe, um Kapazitäten für Visionen zu schaffen und Antworten auf die großen Themen der Zeit zu geben?