Über die ökonomische Realpolitik der Sozialdemokratie

Stephan Schulmeister über die neoliberale Selbstentmündigung der Politik und die Losung "Mehr privat, weniger Staat"
Europa und Internationales
Wirtschaft und Arbeit
Dienstag,
24
.3.
2015
 
Wien
BSA Döbling
BSA Alsergrund

Am 24.3.2015 begrüßte der BSA-Döbling im Zusammenarbeit mit dem BSA-Alsergrund den bekannten Wirtschaftsforscher Dr. Stephan Schulmeister zu einem äußerst spannenden, heftig akklamierten, von Dr.in Katharina Seifert-Prenn moderierten Gesprächsabend unter dem Titel "Die Partei des kleineren Übels". Als Gastredner ging der Wirtschaftsforscher beim letzten Bundestag des BSA im Herbst 2014 kritisch mit der ökonomischen Realpolitik der Sozialdemokratie und der Christdemokratie ins Gericht und erntete dafür viel Zustimmung.

Zunächst ging der Gast in Abwandlung eines Clausewitz-Zitats auf Politik als Krieg mit anderen Mitteln ein und verdeutlichte die Notwendigkeit einer Navigationskarte als Grundlage, welche die wichtigsten Tendenzen einer gesellschaftlichen Entwicklung erklärt, die wichtigsten Ziele der Partei verortet und die zu ihrer Erreichung notwendigen Bewegungen verdeutlicht, um den zusehenden, zugleich betroffenen BürgerInnen Orientierung zu geben, wofür die Partei steht, Identität nach innen und außen zu stiften.

Politik erfordert eine Analyse der eigenen Stärken und Schwächen sowie jener der Gegner, eine Standortbestimmung und Erklärung, wie man in die Ausgangslage geraten ist, die Einschätzung der Stoßrichtungen der Gegner, die Bestimmung der kurz- und langfristigen Ziele, die Produktion von Konzepten zur Bewältigung der bedrückendsten Probleme und Argumentationsmaterial, der Aufbau von Kommunikationssystem sowie die Mobilisierung durch Einzelkampagnen.

Der Wirtschaftsforscher blickte auf die in der Sozialdemokratie organisierten Arbeiterbewegung zurück, die über eine Basis, für Ziele, Koordination, Argumentationsnachschub und Identität der Partei verfügte. Er verwies auf die Ideen von Keynes, die die Universitäten und Medien eroberten, und den Aufbau des Sozialstaates und setzte sich mit Hayek, der den Erfolg der Arbeiterbewegung genau studierte und der geplanten Gegenoffensive der Neoliberalen mit den Zielen, der Deregulierung der Finanzmärkte sowie der Diskreditierung von Vollbeschäftigungspolitik, Sozialstaat und Gewerkschaften auseinander.

Stephan Schulmeister regte an, die Freiheit nicht negativ als maximale Abwesenheit von staatlichem Zwang wie Hayek, sondern positiv als Entfaltungsmöglichkeiten zu begreifen. Vor der Renaissance des Neoliberalismus war laut der Einschätzung des Referenten war die Freiheit als Entfaltungsmöglichkeit viel größer als heute. Seither ist nur die Freiheit der Vermögenden stetig gewachsen, für die Politik und die meisten BürgerInnen wurde es immer enger, was den Ökonomen nicht sonderlich verwunderte, da am Markt mit "Geldstimmen" abgestimmt wird, hingegen in der Demokratie "one (wo)man, one vote" gilt.

1968 beginnt die neoliberale Großoffensive mit Friedman's Angriff auf das Kernstück des Keynesianismus, die Vollbeschäftigung. 1980 wird das Ziel niedriger Zinssätze aufgegeben, seither liegen sie über der Wachstumsrate. Die Unternehmer passen sich dem durch eine Senkung der Investionen an, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen, Sozialabbau und Lohnkürzungen werden zu Sachzwängen (gemacht).

Stephan Schulmeister beleuchtete in weiterer Folge den Boom der Finanzmärkte und der Börsen und stellte fest, dass die gleichzeitige Entwertung von Aktien, Rohstoffen und Immobilien im Jahr 2008 in die große Krise führte, wobei die strikte Sparpolitik in Europa die Krise erst zu einer Depression vertiefte.

Ohne das Versagen der Sozialdemokratie wäre die desaströse Entwicklung der letzten 40 Jahre nicht möglich gewesen. Der Fundamentalfehler: Man begriff nicht, dass die Entfesselung der Finanzmärkte Teil eines geplanten Generalangriffs auf Sozialstaat und Gewerkschaften war. Daher organisierte man keine Gegenoffensive, nicht einmal eine klare Defensivlinie.

Der Wirtschaftsforscher kritisierte unmissverständlich die neoliberale Selbstentmündigung der Politik, wonach sich im Namen der Freiheit die Politik dem Markt unterwerfen müsse, die vielmehr auch die Köpfe sozialdemokratischer Eliten erfasste und dadurch zu einem Rückzug in kleinen Schritten führte. "Mehr privat, weniger Staat" wurde zur Hauptlosung einer sich selbst entmächtigenden Politik, demnach steuert "der Markt" ökonomische Prozesse viel effizienter als bewusstes Handeln seitens der Politik.

Nach Jahrzehnten neoliberaler Gegenaufklärung befürchtete der Ökonom, dass ein Ausgang der Politik aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit erst nach einem weiteren Krisenschub gelingen wird, wofür das Potenzial durch die Aktienmärkte mit der derzeitigen Dollaraufwertung wiederum aufgebaut wird.

Politiker wie Kreisky, dessen Machtstreben auch von seiner Anteilnahme an den Menschen genährt wurde, versucht Gegenpositionen aufzubauen, doch sind sie mehr emotional als analytisch funidert. Sinowatz ist dann alles schon zu kompliziert. Den fortschreitenden Verlust von Identität und Orientierung kaschiert man mit "dritten Wegen" von Blair und Schröder bis Klima: Anpassung an Sachzwänge, Mitschwimmen im Mainstream (Wahlslogan Vranitzky: "Sparen, aber sozial"). Die Sozialdemokratie wird zur Partei des kleineren Übels.

Stephan Schulmeister bewertete die sozialdemokratische Zustimmung zum Fiskalpakt mit seinen wichtigsten, in den USA erstellten Komponenten von der "natürlichen Arbeitslosenrate", damit wird das "strukturelle Defizit" im Budget geschätzt, bis zur Regelbindung der Politik als deren finale Kapitulation.

Hätte ein Faymann den Pakt vorher studiert, er hätte seine Kollegen erklären können: Es ist ein Skandal, wenn die Europäische Kommission 90% der Arbeitslosen in Europa für nicht mehr verwendbar erklärt und daher auch den größten Teil der Budgetdefizite als strukturell bezeichnet, sodass man weiter sparen muss, und zwar am Sozialstaat und den Arbeitnehmern. Faymann bekam diese Informationen, er hat sie halt nicht gelesen. Hat er aber obiges verstanden und zugestimmt, ist ihm und der Sozialdemokratie nicht mehr zu helfen.

Der Wirtschaftsforscher empfahl unter anderem den Aufbau eigner Kommunikationssysteme statt wie die Neoliberalen auf die Pflege der Medien zu setzen und ging auch auf die Möglichkeiten des Internets ein.

Noch mehr Anpassung, von Gusenbauers "solidarischer Hochleistungsgesellschaft" und dem "Nulldefizit in der Verfassung" bis zu dem EU-Demutsbrief an den Herren der Kronen-Zeitung. Dabei hätte das Internet die Möglichkeit zur Schaffung neuer Nachschubwege geboten: Auf Knopfdruck könnte man zehntausende Mitglieder, die für sozialdemokratische Werte kämpfen wollen und spüren, dass etwas fundamental schief läuft, mit eigenen Konzepten und Argumenten versorgen. Doch mangels Navigationskarte sind diese nicht vorhanden.

Stephan Schulmeister empfände beispielsweise als sozialdemokratisch und christlich die Abschaffung der Begünstigung des 13./14. Gehalts, da die Steuerbegünstigung in massiver Weise die Einkommen von unten nach oben umverteilt. Dadurch würden 5 Milliarden Euro frei, wovon 3 Milliarden für eine Erhöhung des Netto-Einkommens bis 5.000 Euro Monatseinkommen und des Arbeitslosengeldes verwendet, über 8.000 Euro würde die Steuerbelastung gestaffelt steigen. Der Rest sowie Einnahmen aus einer moderaten Erbschafts- und Vermögenssteuer finanzieren dringend notwendige Projekte im Bereich von Bildung, Pflege, Infrastruktur, Umwelt, um die Wirtschaft zu beleben und Arbeitsplätze zu schaffen.

Eine echte Reform des Steuersystems müsste für den Wirtschaftsforscher mit dem Ziel verbunden sein, die bedrückendsten Probleme zu mildern, die wachsende Ungleichheit in der funktionellen und personellen Verteilung, ökonomische Stagnation, die Zunahme von (Jugend-)Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und damit von Armut, Verschlechterung der Umwelt. Der Staat braucht mehr Spielraum zur Bekämpfung der Krise statt sich an den dargestellten Leitlinien des Neoliberalismus zu orientieren.

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