70 Jahre Zweite Republik, Kriegsende und Befreiung sowie 60 Jahre Staatsvertrag

Oliver Rathkolb warnte vor dem Wunsch nach dem starken Mann und kritisierte, dass in Österreich jede Innovation als eine Bedrohung der herrschenden Elite empfunden wird.
Dienstag,
28
.4.
2015
 
Wien
BSA Döbling
Gesellschaft für Geistes- und Sozialwissenschaften

Am 28.4.2015 begrüßte der BSA-Döbling in Kooperation mit der Gesellschaft für Geistes- und Sozialwissenschaften im BSA nur einen Tag nach dem Jahrestag Gründung der Zweiten Republik Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien, der sein Buch "Die paradoxe Republik - Österreich 1945 bis 2015" präsentierte, über 70 Jahre Zweite Republik, Kriegsende und Befreiung sowie 60 Jahre Staatsvertrag referierte, dabei die Kernthemen österreichischer Politik und Geschichte der letzten Jahrzehnte, dabei die politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Entwicklung analysierte und auch einen kritischen Blick in die Zukunft warf.

Wer die Jungen und die Frauen gewinnt, setzt Innovation in Österreich durch.

Der Zeithistoriker beleuchtete unter anderem die wohl größte Erfolgsstory nach 1945, die Entwicklung der österreichischen Volkswirtschaft, eine Entwicklung, die im kollektiven Bewusstsein ausschließlich als Eigenleistung hochstilisiert wurde, letztlich das Ergebnis einer Mischung aus positiven internationalen Faktoren im Bereich der gegen Konkurrenz lange geschützten Westintegration ist. Bis weit in die 1950er-Jahre blieben die Einkommen hinter der Preisentwicklung zurück, weshalb der Anteil der Zuschüsse aus der Erwerbsarbeit am Wiederaufbau überdurchschnittlich hoch war. Die stark von Kartellen, Monopolen und regulativem Rahmenwerk kontrollierte Wirtschaft und die Verstaatlichte Industrie kamen in den 1980er-Jahren auch aufgrund der geänderten internationalen Rahmenbedingungen, mit der beginnenden Globalisierung und Integrationseffekten vor dem EU-Beitritt in Schwierigkeiten. Durch hohe staatliche Ausgaben gelang es in den späten 1970er- und 1980-Jahren die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten, aber eine ideologische Auseinandersetzung um aktive staatliche wirtschaftspolitische Eingriffe ist im Gange.

Waren in den 1980er-Jahren manche Budgetdefizite zu hoch, so sind sie seit 2000 zu niedrig und behindern letztlich eine innovative Vorwärtsentwicklung. Während Budgetdefizite in den höchst privatkapitalistisch organisierten USA meist von konservativen Administrationen bewusst akzeptiert werden, gilt in Österreich seit 2000 die Grundthese der möglichst niedrigen Budgetausgaben. Dass dies auch eine weitere psychologische Motivation für die KonsumentInnen ist, ebenfalls weniger zu kaufen, was wiederum eine Marktbelebung verhindert, wird meist verdängt. Entsprechend niedrig sind daher die Wachstumsraten, entsprechend steigt die Arbeitslosigkeit.

Eine radikale Veränderung stellt die Verlagerung der wesentlichen finanz- und wirtschaftspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten auf die europäische und internationale Finanz- und Devisenmarktebene dar, wodurch der österreichische Handlungsspielraum reduziert, aber bei einer entsprechenden Initiative und Netzwerkbildung durchaus erweitert werden können. In dem Zusammenhang forderte der Autor ganz klar, dass ökonomischer Solipsismus überwunden und die Realität akzeptiert werden müsse.

Ein weiterer Bereich über die Paradoxien der Zweiten Republik behandelt die internationale Stellung Österreichs, zumal diese noch heute einer der bestimmenden Faktoren der österreichischen Identitätsbildung ist. Das Land wurde nach 1945 durch alliierte Befreiung und Administration in die Internationalität gezwungen, die Neutralisierung 1955 prolongierte die Notwendigkeit, sich auch im internationalen Kontext zu engagieren. Der Zeithistoriker sieht eine besondere Bedeutung in der Einbindung in die UNO, die Integration internationaler Organisationen mit Sitz in Wien und das Engagement in der Entspannungspolitik. Österreich profitierte von seiner geostrategischen Lage zwischen den Blöcken und fand auch rasch Anschluss an die ökonomische Westintegration und agierte in den 1970er-Kahren relativ eigenständig. Erst die Transformationsprozesse der 1980er-Jahre führten zu einer Umorientierung in Richtung der EU, das Ende des Kalten Krieges beschleunigte die Vollintegration.

Das kollektive Bewusstsein - selbst bei politischen Entscheidungsträgern - hat aber bis heute die umfassenden Änderungen in der außenpolitischen Manövrierfähigkeit noch nicht erfasst. Die Sonderrolle im Kalten Krieg wirkt nach, ebenso der Glaube, Weichenstellungen im internationalen Bereich noch allein oder mit wenigen Partnern gestalten zu können.

Oliver Rathkolb ging in seinen Ausführungen auch darauf ein, dass in den letzten Jahren, spätestens seit den diplomatischen Sanktionen der 14 EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 2000 allmählich ein Umdenken beginnt, auch in die Richtung, dass Europapoliltik nicht mehr Außen-, sondern Innenpolitik sein sollte, wenngleich nach der Einschätzung des Experten nicht nur in Österreich noch ein langer Weg zu gehen ist.

In den letzten Jahren schwankte die Einschätzung der europapolitischen Gestaltungsmöglichkeit zwischen Minderwertigkeitsgefühl, Ohnmacht und maßloser Überschätzung, wobei sich die Rest-Neutralität, die nach dem Beitritt 1995 völkerrechtlich noch geblieben ist, wieder als Stabilisierungsfaktor erwist und die lauten Rufe nach einer NATO-Mitgliedschaft verklungen sind. Längst hat die Neutralität tiefe gesellschaftliche Spuren hinterlassen, als Symbol für sozialstaatlich abgesicherten wirtschaftlichen Aufstieg und vor allem auch Nichteinmischung in militärische Konfrontationen.

Der Professor für Zeitgeschichte sieht einen wesentlichen Faktor auf dem Weg zur Eigenstaatlichkeit, aber auch wichtige wirtschafliche Triebfeder in der Zweiten Republik den Bereich Kultur. In den ersten Jahrzehnten kontrollierte ÖVP den staatlichen Rahmen, durch deren programmatische Forderungen eine fortgesetzte Verdrängung von Moderne und Avantgarde sowie in ästhetischen Fragen die kulturpolitische Interventionsmöglichkeiten der katholischen Kirche vorgegeben waren. Die SPÖ scheute hier eine politische Debatte und überließ der ÖVP jahrzehntelang das Diskursfeld Heimat, erst im Parteiprogramm 1958 begann sich die SPÖ wieder grundlegend zu Kulturfragen zu äußeren. Die Experimente des "Roten Wien" im Kunst- und Kulturbereich wurden, falls überhaupt, nur in geringem Umfang fortgeführt und politisch stigmatisierte Initiativen wie das Neue Theater in der Scala nach 1955 sofort eingestellt.

Bruno Kreisky entdeckte dann die Bedeutung dieses Feldes für die politische Diskussion und suchte Allianzen mit Künstlerinnen und Künstlern und unterstützte Initiativen zur Anknüpfung an die Moderne und Avantgarde vor 1938 und zur Festschreibung der Freiheit der Kunst in der Verfassung.

Nicht in Frage gestellt wurde das Monopol der Hochkultur, der erratischen Blöcke aus der Monarchie, repräsentiert durch Staatsoper, Wiener Philharmoniker und Burgtheater. Strukturell wirken, wie der Buchautor analysierte, diese Grundsatzsentscheidungen bis in die Gegenwart, so bleibt trotz des Kulturbudgets wenig finanzieller Spielraum zur Föderung kleiner und unabhängiger Kulturinitiativen.

Oliver Rathkolb ging zuletzt auf die Frage ein, warum die Auseinandersetzung über die Vergangenheit in Österreich so wichtig ist. Nach einer intensiven Nachkriegsdiskussion wurde die rechtfertigende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und dem Holocaust in die private Geschichtsfabrik abgeschoben. Es waren eine neue Generation und auch ein geänderter internationaler Horizont im Beuwsstsein, zudem eine stärker voranschreitende Individualisierung der Gesellschaft, für die Fragen der Menschenrechte und nach Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit wichtiger wurden.

Vergangenheit ist zunehmend auch ein Medienfaktor geworden, und Vergangenheitspolitik ermöglicht auch politische Tabubrüche, sowohl im Zusammenhang mit der Neudeutung von Geschichtsbildern - bei den Grünen - als auch bei Revisionsversuchen - im Falle der FPÖ. Im Zentrum der direkten Debatten stehen dabei der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, der Bürgerkrieg vom Februar 1934 und das Dollfuß-Schuschnigg-Regime sind ebenso "kalte" Geschichte geworden wie die Habsburgermonarchie.

Der Zeithistoriker empfiehlt eine stärkere Berücksichtigung des europäischen und internationalen Kontextes, wodurch Hoffnung auf differenziertere Vorstellungen über Geschichte, die auch der aktuellen Realität Österreichs inmitten Europas entsprechen und die kulturelle Kompetenz deutlich gestärkt werden, besteht. Der Buchautor warnte jedoch vor dem Versuch der Vergangenheitspolitik im klassischen Sinn, eine nationale Rekonstruktion von Geschichte in den Unterricht zu implantieren, wonach die Nationalgeschichte weiter erodieren und auch der Identitätskitt weiter brüchig werden würde.

Letztlich werden in der Globalisierung und Integration vor allem jene ökonomisch und sozial bestehen, die nicht nur die traditionelle nationalstaatliche Vergangenheit verstehen, sondern auch das europäische und internationale Umfeld aufnehmen und deuten können.

Ebenfalls warnte der Professor für Zeitgeschichte vor dem Drang nach autoritären Strukturen und dem Wunsch nach dem starken Mann, zumal seine Forschungen zum Thema zeigen, dass der Autoritarismus in Österreich in Form eines antiparlamentarischen Systems mit einer Ein-Mann-Diktatur nach wie vor bis zu 20 Prozent der WählerInnen durchaus anspricht. Überdies wurde klar, dass Personen mit autoritären Einstellungen auch deutlichere Tendenzen zu einer Verklärung von historischen Diktatoren aufweisen.

Über 50 Prozent der Befragten bejahten eine Mitverantwortung der österreichischen Gesellschaft für die Verbrechen des Nationalsozialismus, nur knapp unter 20 Prozent lehnten diese ab. Trotz gestiegener selbstkritischer Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Rolle Österreichs in der deutschen Wehrmacht und der NS-Terrormaschinerie, lebt aber die "Opferdoktrin" - Österreicher als Opfer des NS-Regimes - weiter.

Oliver Rathkolb vertritt die These, dass eine kritische Geschichtspolitik gegenüber autoritären Vergangenheiten auch die demokratischen Grundeinstellungen fördert, wobei er verdeutlichte, dass allein kritische geschichtspolitische Debatten autoritäre Einstellungenin Österreich ändern. Solche Änderungen sind vielmehr Bestandteil eines sehr stark generationsspezifisch und sozioökonomisch geprägten demokratischen Meinungsbildungsprozesses und wirken auch auf der Mikro- und Regionalebene.

Formal funktionierende demokratische Strukturen im österreichischen Konsenssystem erfordern daher immer wieder öffentlich durchgeführte kritische Debatten über autoritäre Einstellungen. Es zeigt sich, dass seit der globalen Finanzkrise 2008 autoritäre und fremdenfeindliche Einstellungen in Österreich zunehmen. Dass Conchita Wurst den Eurovision Songcontest gewann, bestätigt eher einen europäischen Trend zur Offenheit als eine liberale Revolution im österreichischen Wertesystem.

Abschließend verwies der Buchautor auf die zersplitterte Parteienlandschaft Österreichs mit einer stark geschwächten Großen Koalition, die nicht im Stande ist, gegen die jeweiligen, teils auch nur vermuteten Interessen ihrer jeweiligen Wählerklientel Reformen durchzusetzen. Nur eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung könnte eine Trendwende bringen, aber seit dem EU-Beitritt 1995 fehlt Österreich eine große mobilisierende gesellschaftliche Vision, weshalb zunehmend politische Apathie herrscht.

Für die Zukunft gibt es einige ganz große Bereiche, wo die Zeit beginnt, davonzulaufen. Das sind der Bildungsbereich, mehr Chancengleichheit, Europa und die Gefahr des Autoritarismus.

Für Oliver Rathkolb bleibt es allerdings offen, ob die wertkonservativen und nicht sehr risikofreudigen ÖsterreicherInnen zu einer umfassenden Reformbewegung zu motivieren sind. Aus seiner Sicht muss der Reformdruck groß sein, wie 1966, 1970, 1986 und 2000, ehe eine Richtungsentscheidung getroffen wurde.

Es bedurfte einer politischen Persönlichkeit, die für eine umfassende Erneuerung stand, sei es nun Josef Klaus, Bruno Kreisky, Franz Vranitzky oder Wolfgang Schüssel.

Die Reformresistenz Österreichs ist für den Zeithistoriker auch eine Form von Autoritätsgläubigkeit. Man kritisiert zwar den Staat und die Parteien, aber Zivilcourage muss man erst suchen. Es gibt für ihn jedoch ein unglaubliches Potenzial, das sich aber nicht artikuliert, öffentlich Druck auf die Politik zu machen.

Wer die Jungen und die Frauen gewinnt, setzt Innovation in Österreich durch.

Obwohl Oliver Rathkolb in diesen Tagen eine Vielzahl von Verpflichtungen angesichts verschiedener Jubiläen wahrzunehmen hatte, nahm er sich die Zeit, um mit den interessierten BSA-Mitgliedern im Anschluss über sein umfassend erweitertes Standardwerk zu sprechen und Fragen zu beantworten.

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