Europa im Widerspruch

Bildung, Kultur und Medien
Europa und Internationales
Innen- und Kommunalpolitik
Dienstag,
14
.5.
2019
 
Wien
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Bundesfachgruppe Medienberufe im BSA
Vereinigung sozialdemokratischer Angehöriger in Gesundheits- und Sozialberufen
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Die Journalistin und Autorin Barbara Coudenhove-Kalergi, die Philosophin und Autorin Agnes Heller, der Journalist und Autor Peter Michael Lingens sowie die Journalistin und Autorin Tessa Szyszkowitz diskutierten über ein freies und solidarisches Europa sowie die Gefahr einer nationalistischen Wende in Europa, die ernstgenommen werden muss, um ihr begegnen zu können. Vor dem Einstieg in dieses Gespräch und der Beantwortung von verschiedenen Fragestellungen, ob sich Europa einerseits durch die ungelösten Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie und andererseits, da man nicht wahrhaben möchte, dass die Demokratien in Europa keineswegs so fest verankert sind, wie viele Menschen meinen, wurde Agnes Heller zu ihrem 90. Geburtstag, welchen die ungarische Philosophin, die zwei Diktaturen kommen und gehen sah, nur zwei Tage vor der Veranstaltung feierte, gratuliert.

Agnes Heller ging zuerst auf die in Europa entdeckte Aufklärung, den Universalismus ein und beleuchtete das Paradox, wonach sowohl der Fortschritt ein europäischer Begriff als auch der Totalitarismus eine europäische Idee ist, sozusagen Nazismus, Bolschewismus und Faschismus europäische Entdeckungen sind. Dieser Gegensatz lässt sich jedoch nicht auflösen, da es keinen Kompromiss zwischen den beiden gibt und geben kann. Dazu kommt, dass die Idee des Nationalstaates etwa 150 Jahre reifen konnte, die Idee Europa erst wenige Jahrzehnte. Das ist für die Autorin kein Grund zur Resignation, vielmehr könnte die Geschichte Ungarns auch als eine Warnung für andere Staaten auf dem europäischen Kontinent dienen. Es ist die anthropologische Grunderkenntnis der Spaltung der Menschen in ein „wir“ und ein „die“, die durch das Subjekt gekennzeichnet wird. „ Wir alle werden als Fremde geboren. Genetisch sind wir für Sprache und soziales Leben ausgestattet, wenn auch nicht für eine bestimmte Sprache, Kultur oder Gesellschaft. Die Welt, in die wir durch Zufall hineingeworfen werden, ist fremd und unbekannt.“ Man kann sich immer noch vorstellen, dass sich die anthropologische Grundhaltung mit dem Universalismus vereinbaren lässt. Es ist nicht ohne Spannungen, aber doch möglich. Die Philosophin gab zu, dass es sich um eine allzu optimistische Einschätzung handeln könnte. Sie merkte an, dass dies aber wahr werden könnte, sofern die EU die Herausforderung wirklich annimmt. Wenn man wettet, dann besser auf ein optimales Ergebnis. „Das eine war die Bibel, das andere die griechisch-römische Überlieferung.

Europa hat also zwei völlig verschiedene Begriffe von ‚Volk‘ geerbt.“ Eine Wurzel der europäischen Paradoxie liegt in dem Verständnis von Volk, im antiken Rom stand das Volk immer unten, es waren keine Aristokraten. Aus dem hebräischen Volksbegriff ergibt sich die biblische Konzeption des Volkes, in der Bibel gehören alle Menschen zum Volk, die in einer politischen oder religiösen Dimension eine kulturelle Einheit leben. Diese zwei Ideen sind auch moderne Ideen, gleichzeitig zwei verschiedene Begriffe der Nationen. Aus dieser Dichotomie speist sich auch der Kampf des ethnischen Nationalismus mit der Staatsbürgerschaft, der Gemeinschaft der „Citoyens“, die aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist. Der ethnische Nationalismus bezieht sich rückwärtsgewandt auf das Völkische, geeint in Blut und Boden, und beruht auf der Gemeinschaft der Vorfahren. Die Gefahr lauert in der Gestalt von PolitikerInnen wie Viktor Orbán, Matteo Salvini oder Marine Le Pen, deren negative Ideologien machen diese PopulistInnen erfolgreich und gefährlich. Agnes Heller benannte Europa als deren Feind und stellte die Frage, was passieren wird, wenn sie die Macht in Europa erobern, wer dann der Feind sein wird. Überdies mahnte sie, dass man nicht nur glauben muss, dass es diese Gefahr gibt, sondern das verstehen und Acht geben muss, um die reale Gefahr noch abzuwenden. Alles hängt davon ab, die Welt zu verstehen.

Barbara Coudenhove-Kalergi zitierte das Buch „Wie Demokratien sterben“ der beiden US-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, die beschreiben, dass Demokratien entweder mit einem Knall, das oft gewaltsame Ende einer Demokratie durch einen Putsch, einen Krieg oder eine Revolution, oder mit einem Wimmern, durch das Dahinsiechen einer Demokratie, streben. Sie stimmte überein, dass die letztere Variante alltäglicher und gefährlicher ist, da meist die BürgerInnen erst aufwachen, wenn es zu spät ist. Man sollte daran denken, dass Demokratien auch sterben können, mit gezielter Gegenwehr lassen sich die Demokratien in Europa auch vom Sterbebett retten. Man kann erkennen, dass die demokratischen Institutionen und Prozesse ausgehöhlt werden. Die wichtigste Veränderung ist, dass Dinge als normal empfunden werden, die vorher inakzeptabel waren, wie Hetzte gegen Flüchtlinge. Wesentlich ist, an bestimmten Punkten einzugreifen, um diese Entwicklung zu stoppen. Laut der Journalistin hört man oft die Klage, dass es keine europäische Öffentlichkeit gibt. Alle Fragen, die die Europäische Union betreffen, werden, wenn überhaupt, nur auf nationaler Ebene öffentlich diskutiert. Zu klären ist, was unter europäischer Öffentlichkeit zu verstehen ist, was europäisch ist und wie heutzutage etwas wie eine europäische Öffentlichkeit entstehen könnte. Die ehemalige ORF-Mitarbeiterin zeigte Sympathien für eine europäische Debatte, dass die Menschen hören können, wofür die europäischen Parteienfamilien wirklich stehen. Wer sich zum 100. Mal ParteipolitikerInnen in Österreich angeschaut hat, will auch diejenigen in Europa sehen, auf die es ankommt und nicht nur von außen über Europa reden und auch schimpfen. Ein Satz von Hannah Arendt lautet: „Die Besten der Besten kommen nie aus nur einem Land, sondern von überall.“ Wer Homogenität will, bekommt Mittelmäßigkeit.

Barbara Coudenhove-Kalergi, welche selbst seit Jahren Deutschkurse für geflüchtete Menschen gibt, thematisierte Flucht und Migration als große Herausforderungen für Europa. Millionen Menschen sollen etwas leisten, sich gleichzeitig integrieren und die eigene Identität bewahren, damit zwei Identitäten harmonisch vereinen, das Eigene behalten und das Fremde übernehmen. Demnach muss man mit mehreren Identitäten leben, wobei zu beantworten ist, ob eine neue Identität hervorgebracht wird, die das Beste aus den ursprünglichen Versatzstücken miteinander vereinigt. Flüchtlinge gelten als die Avantgarde der Völker, aber nur dann, wenn sie ihre Identität bewahren. Es ist zu klären, ob das nicht das Gegenteil der Integrationsbereitschaft ist, die Menschen in den Einwanderungsländern von ZuwanderInnen aus anderen Kultur, speziell aus einer islamischen, erwarten. „Es wächst zusammen, was zusammengehört“, sagte Willy Brandt am Vorabend der deutschen Wiedervereinigung. Barbara Coudenhove-Kalergi sieht Österreich durchaus in der Mitte zwischen liberaler Demokratie in Frankreich und Deutschland sowie illiberaler Demokratie in Ungarn und Polen, wobei sie erinnerte, auf diejenigen in Ungarn oder Polen nicht zu vergessen, die sich für Werte wie etwa Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte, die den Kern der Europäischen Union darstellen, einsetzen. Österreich steht vor einer Richtungsentscheidung, ob es eher zu den Visegrád-Staaten, die sich allmählich von der EU und deren Werten wegbewegen, oder zu den westlichen Kernländern gehören möchte. Relevant scheint der Autorin, ob Viktor Orbán, den die schwarzblaue Bundesregierung hofierte, Österreichs Freund ist oder sich Sebastian Kurz an Angela Merkel und Emmanuel Macron orientieren soll. Wer Balkanroute sagt und als Vermittler zwischen West- und Osteuropa ernstgenommen werden möchte, sollte auch Pressefreiheit sagen.

Peter Michael Lingens ging auf die Hintergründe ein, warum die Europäische Union in aller Stille auf die größte Krise ihrer Geschichte zusteuert. Er vertiefte die Auswirkungen der Wahlen zum Europäischen Parlament, die EVP wird mit Verlusten unverändert die stärkste Fraktion, die SPE massiv geschwächt, die Rechtsparteien gestärkt sein. Entscheidend ist in wirtschaftspolitischer Sicht, ob Manfred Weber von der Position Deutschlands zu Sparpakt und Lohnzurückhaltung abrücken wird, Liberale und Grünen nehmen keine klare wirtschaftliche Gegenposition zur EVP ein. Nicht nur hohe Arbeitslosenraten, sondern auch die politische Landschaft erinnern zunehmend an die Zwischenkriegszeit. Trotz des begrenzten Einflusses des Europäischen Parlaments kann in einem positiven Zusammenwirken mit dem neuen Kommissionspräsidenten ein wesentlicher Unterschied zur bisherigen Politik resultieren. „Europa eine Seele geben“, das forderte Jacques Delors, denn in einen Binnenmarkt könne man sich nicht verlieben. Ein trügerisches äußerliches Hoch verdeckt ein denkbar brüchiges Inneres der Europäischen Union, Wohlstand und Demokratie sind gleichermaßen gefährdet, sofern Europa nicht zu sozialem Wirtschaftswachstum zurückkehrt.

Ein neuer Faschismus erhält eine reale Chance, falls die Europäische Union ihre Wirtschaft nicht bald erfolgreicher gestaltet, Armut und Arbeitslosigkeit vermindert, die Angst vor dem möglichen Jobverlust durch die Hoffnung auf finanziellen Aufstieg ersetzt. Der Journalist sieht als zentrale Ursache dieses Niedergangs der Europäischen Union die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung Deutschlands, ihretwegen wurde der Euro von vornherein falsch, ganz anders als der US-Dollar, konstruiert. Ihr Sparwahn kontrahiert Europas Wirtschaftswachstum, ihr Abgehen von einer Lohnpolitik, bei der die Reallöhne mit der Produktivität steigen, sprengt die Gemeinschaft in Europa, indem ein hilfloser Süden, bis hin zu Frankreich, immer größere Marktanteile an Deutschland verliert. Der Autor warf die pointierte Frage auf, ob Deutschland der Sprengmeister der Europäischen Union ist, Österreich der Mitläufer, eine Antwort lautet, dass die Europäischen Union ein wirtschaftspolitisch anders denkendes Deutschland braucht. Er erläuterte, warum es niemand in der Europäischen Union wahrhaben möchte, dass von der Einführung des Euro Deutschland, die Niederlande und vermutlich Österreich profitieren, die Gemeinschaftswährung für andere Volkswirtschaften, darunter Frankreich und Italien, wie für die Eurozone insgesamt, ein Verlustgeschäft gewesen ist. Deutschland und die Niederlande sind zu einem uneinholbaren Vorsprung an Konkurrenzfähigkeit gelangt, Löhne werden nicht mehr im Ausmaß von Produktivitätsfortschritt plus Inflation erhöht, weshalb die ArbeitnehmerInnen die Warenpreise beider Ländern durch Reallohnverluste subventionieren. Es stimmt nicht, dass sich die anderen Mitgliedsstaaten auf Kosten Deutschlands saniert haben, vielmehr lehnt Deutschland genau das ab, was die USA viel erfolgreicher als die EU macht. Deutschland will weder eine Transfer-Union noch Eurobonds, da dabei andere Staaten von der hohen Bonität Deutschlands profitieren. Er sieht in der derzeitigen Haltung Deutschlands einen Hauptgrund für das normalerweise viel schlechtere Funktionieren das Europäischen Union.

Tessa Szyszkowitz ging in ihrer Analyse, nachdem alle zwischen Damoklesschwert und Hoffnung über die Europäische Union nach dem Brexit reden, darauf ein, was aus dem Vereinigten Königreich ohne Europa wird, wie Großbritannien nach der Trennung funktionieren könnte, als Empire 2.0 oder Little England. Alte Sicherheiten scheinen in Europa nicht mehr zu gelten und die Briten scheinen keine klare Vorstellung mehr zu haben, wer sie sind, was das Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union zeigte. Alles, was den Briten heilig ist, wie Demokratie, das Parlament, die Toleranz oder die sprichwörtliche Gelassenheit, wird durch den EU-Austritt in Frage gestellt, die britische Gesellschaft blieb tief gespalten. „Erst muss man das Unmögliche ausschließen und sich dann mit allen unwahrscheinlichen Lösungen beschäftigen. Eine davon muss es sein“, stellte Sherlock Holmes fest. Der Brexit wächst sich auf jeden Fall zu einem selbstbeschädigenden Desaster für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft aus. Die Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Union werden noch Jahre dauern, in denen von Sicherheit für Menschen und Handel keine Rede sein kann.

Die Korrespondentin in London bewertete die Wahrscheinlichkeiten einzelner Varianten, dazu zählen ein Austritt ohne Abkommen, ein zweites Referendum, ein sanfterer Brexit mit Zollunion und Neuwahlen des Unterhauses. Die Wahlen zum Europäischen Parlament, die Brexit Party führte in letzten Umfragen vor der Labour Party, den Liberaldemokraten und den regierenden konservativen Tories, bedeuten für die Parteien in Großbritannien ein politisches Erdbeben. Eine Rückkehr von Nigel Farage nach Brüssel hat eine gewisse Bedeutung, das Chaos im Vereinigten Königreich hat andere austrittsbereite Nationalisten wie die FPÖ derzeit verschreckt, der Öxit scheint vom Tisch zu sein. Das Brexit-Votum hat jedenfalls den Nationalismus in England befördert, dementsprechend wird der Brexit Party das Vertrauen geschenkt, um den EU-Austritt doch noch zu retten. Das Logo der neuen Brexit Party mit dem nach rechts deutenden Pfeil zeigt, wohin die Reise gehen soll. Nigel Farage sammelt nicht nur Englands Rechtspopulisten, sondern hetzt auch gegen die Europäische Union und die politische Klasse in Westminster. Erwähnt wurden auch persönliche Eindrücke der Journalistin von dessen Veranstaltungen, seine Fans sind alle weiß, stellen sich beim Einlass geduldig an, wie es dem Nationalcharakter in Großbritannien entspricht. Ein Motiv, dass sie zu ihm kommen, könnte darin liegen, um die desaströse Lage der Nation kurz vergessen zu können. Seine AnhängerInnen sind nicht die Linken, sondern eher die enttäuschten Konservativen, die den Verdacht haben, dass Theresa May den Brexit von Anfang an hintertrieben hatte, und frühere UKIP-Mitglieder wie er selbst.

Nigel Farage lässt sich als die grobe Variante eines Populisten in Europa mit dem Charme eines ehemaligen City-Bankers beschreiben, der gegen die EU-Bonzen wettert, während er ganz gut von dem Gehalt lebt, welches er als Abgeordneter zum Europäischen Parlament erhält. Der andere Gaukler und Blender, der Großbritanniens Politik auf den Kopf gestellt hat, ist Boris Johnson, ein Großbürgersohn und Rebell in einer Familie von politisch aufgeschlossenen Tories, der die Europäische Union nicht ausstehen kann. Eines haben die Populisten gemeinsam, dass es nicht um den Inhalt, sondern um die Pointe geht. Nichtsdestotrotz unterscheiden sich die Rechtspopulisten und Nationalisten im Europäischen Parlament, wo eine Vereinigung der rechtsradikalen bis rechtsextremen Fraktionen ENF mit Lega, RN, PVV und FPÖ sowie EFDD mit UKIP und AfD befürchtet wurde, obgleich sich Nigel Farage vom antisemitischen und antiislamischen Rassismus von Marine Le Pen oder Geert Wilders abgrenzt. Wenngleich die Kraft des Populismus in Europa unterschätzt wurde, teilt die Autorin die Hoffnung auf eine starke proeuropäische Bewegung.

Zum Abschluss der Diskussion wurde wenige Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament eine Frage von Papst Franziskus gestellt: „Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?“ Eine proeuropäische Antwort kann jede und jeder nicht nur, aber auch vom 23. bis 26. Mai mit der Unterstützung für eine proeuropäische Partei geben, in diesem Sinne wurde der offizielle Teil der Diskussion, bevor die AutorInnen interessierten BSA-Mitgliedern im informellen Austausch für Gespräche zur Verfügung standen, mit Worten des früheren Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Richard von Weizsäcker, geschlossen: „Europa ist für uns und für die Zukunft von entscheidender Bedeutung. Zu den bestimmten Aufgaben unserer Zeit zählen die Veränderungen in ganz Europa. Wo Freiheit, Menschenrechte und Pluralismus sind, da ist Europa!“

 

Video der Veranstaltung:

Veranstaltungsankündigung